Neutralität: Die neutralen Staaten Europas

Neutralität: Die neutralen Staaten Europas
Neutralität: Die neutralen Staaten Europas
 
Neutralität in der Zeit des Ost-West-Konflikts hatte sehr unterschiedliche Gründe, und sie fiel auch sehr unterschiedlich aus. Keinem der beiden Blöcke anzugehören, bedeutete nicht, dass man auch ideologisch zwischen Ost und West stand und einen dritten Weg der gesellschaftlichen Ordnung verfolgte. Die meisten neutralen Staaten gehörten ideologisch zu den westlichen Demokratien, und Jugoslawien, das durch die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion in die Blockfreiheit getrieben wurde, blieb gleichwohl ein sozialistisches Land. Blockfreiheit gab den neutralen Ländern aber die Möglichkeit, gelegentlich bei der Mäßigung und beim Abbau des Ost-West-Konflikts zu helfen. So wurden Genf, Wien, Helsinki, Belgrad und Stockholm zu Orten, an denen Delegationen aus Ost und West über Möglichkeiten zur Verständigung berieten.
 
 Die Schweizer Neutralität
 
Im Falle der Schweiz ergab sich die Neutralität aus der Tradition der föderativen Alpenrepublik. Sie war 1815 auf dem Wiener Kongress festgelegt worden und im Selbstverständnis der Schweizer tief verwurzelt. 1945 lehnte der Schweizer Bundesrat eine Beteiligung an der Gründung der Vereinten Nationen ab, weil er nicht bereit war, sich Zwangsmaßnahmen zu unterwerfen, die vom UNO-Sicherheitsrat beschlossen werden konnten. Das verstärkte noch die internationale Isolation, in der sich das Land befand, nachdem es sich geweigert hatte, an der Seite der Alliierten in den Krieg gegen das nationalsozialistische Imperium einzutreten. Die schweizerische Außenpolitik suchte dieser Isolation auf zweierlei Weise zu begegnen: zum einen durch eine aktive Handelspolitik und wirtschaftliche Kooperation, zum anderen durch humanitäre Hilfsbereitschaft. Ende der Vierzigerjahre prägte der Bundesrat Max Petitpierre, der langjährige Leiter des Politischen Departements, dafür die Formel »Neutralität und Solidarität«. Die Schweiz beteiligte sich 1947/48 am Marshallplan und an der Gründung der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit OEEC; 1958 wurde sie assoziiertes Mitglied des Welthandelsabkommens GATT und gehörte 1960 zu den Gründungsmitgliedern der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA. Ebenso trat sie den kulturell und wirtschaftlich ausgerichteten Sonderorganisationen der UNO bei, so 1946 der Welternährungsorganisation FAO und 1949 der Weltkulturorganisation UNESCO. 1963 wurde die Schweiz Mitglied des Europarats. Von 1972 an engagierte sie sich für den KSZE-Prozess.
 
Die Beteiligung am europäischen Wiederaufbau im Zeichen des Marshallplans ermöglichte es der Schweiz, in starkem Maße an der wirtschaftlichen Hochkonjunktur der Fünfziger- und Sechzigerjahre zu partizipieren. Damit einher ging der Ausbau des Wohlfahrtsstaats. Der Bund erhielt die Kompetenz, in das Wirtschaftsgeschehen regulierend einzugreifen, die Landwirtschaft wurde gesetzlichem Schutz unterstellt, und es wurde eine allgemeine Alters- und Hinterbliebenenversicherung eingerichtet. Die Verbindung von Prosperität und stabiler gesellschaftlicher Ordnung, die daraus resultierte, schlug sich auch in einer stabilen Währung nieder, und diese bekräftigte wiederum die Stellung der Schweiz als internationaler Finanzplatz. Die Schweiz entwickelte sich damit zur wohlhabendsten Industrienation der Welt. Dennoch blieben Elemente der Selbstisolierung lebendig: So lehnte eine Mehrheit der Bevölkerung den vom Bundesrat 1984 empfohlenen Beitritt zur UNO ab, und gegen eine Mitgliedschaft in der EG entwickelte sich heftiger Widerstand.
 
 Irlands Neutralität
 
Die irische Neutralität folgte aus dem Kampf der Iren um die Unabhängigkeit von Großbritannien. Solange Nordirland noch zu Großbritannien gehört, ist die Irische Republik nicht bereit, dem britischen Nachbarn als Verbündete Waffenhilfe zu geben; um den Briten aber auch keinen künstlichen Anlass zu liefern, an der nordirischen Provinz festzuhalten, sichert sie gleichzeitig zu, dass das irische Territorium niemals Ausgangsbasis für einen Angriff gegen Großbritannien werden darf.
 
Irland hielt diese Neutralität während des Zweiten Weltkriegs durch, obwohl zunächst der deutsche Sieg über Frankreich eine Beteiligung am Krieg gegen Großbritannien nahe legte und dann mit dem amerikanischen Wunsch nach Stützpunkten neuer Druck und neue Verlockungen an die irische Bevölkerung herantraten. 1948 trat Irland aus dem Commonwealth aus; der Vertrag, der der Republik die volle Unabhängigkeit gewährte, trat am 18. April 1949 in Kraft, dem Jahrestag des Osteraufstands von 1916. Gleichzeitig wurde das Land Mitglied des Europarats und der OEEC, und der Handel zwischen Irland und Großbritannien wurde zum Vorteil beider Seiten geregelt. Die endgültige Trennung von Großbritannien ermöglichte einen pragmatischen Umgang mit dem Nordirlandproblem. Der Terrorismus der Irisch Republikanischen Armee IRA, die die Vertreibung der Briten von der irischen Insel mit Gewalt erreichen wollte, wurde auf dem Gebiet der Irischen Republik mit Erfolg bekämpft. 1965 erklärte sich Premierminister Sean Lemass zur Zusammenarbeit mit der nordirischen Provinzregierung in Ulster bereit, und 1985 wurden der Irischen Republik im Abkommen von Hillsborough mit Großbritannien gewisse Mitspracherechte in der Verwaltung Nordirlands eingeräumt.
 
Wirtschaftlich blieb Irland auf eine enge Zusammenarbeit mit Großbritannien angewiesen, und zur Überwindung der traditionellen Armut eines Agrarlandes benötigte es auch den Anschluss an den europäischen Markt. So stellte die irische Regierung 1961 zusammen mit Großbritannien ihren ersten Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. 1965 wurde ein Freihandelsabkommen mit Großbritannien geschlossen. Zum 1. Januar 1973 konnte Irland dann zusammen mit dem britischen Nachbarn der Europäischen Gemeinschaft beitreten. Die Irische Republik fand damit allmählich Anschluss an die westeuropäischen Industriegesellschaften. Ihre Neutralität beschränkt sich auf den Ausdruck eines grundsätzlichen Vorbehalts gegen die Teilung der irischen Insel.
 
 
Demgegenüber enthielt Schwedens Neutralitätspolitik ein Moment aktiver Vermittlung im Ost-West-Konflikt. Schweden lädt durch seine Lage und seine dünne Besiedlung nicht gerade zu Angriffen ein; gleichzeitig ist es aber auch gut zu verteidigen. Das erleichterte es den seit 1932 regierenden Sozialdemokraten, im beginnenden Kalten Krieg auf einen Beitritt zur NATO zu verzichten und beide Seiten zur Mäßigung aufzurufen.
 
Schweden stellte mit Karl Gunnar Myrdal von 1947 bis 1957 den Exekutivsekretär der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa, die ein Minimum an wirtschaftlicher Kooperation über den Eisernen Vorhang hinweg aufrechtzuerhalten vermochte, und mit Dag Hammarskjöld von 1953 bis 1961 einen höchst aktiven Generalsekretär der UNO. Schweden gehörte in den Fünfzigerjahren zu den engagiertesten Verfechtern der Entkolonialisierung und seit den Sechzigerjahren zu den Vorreitern der Entwicklungshilfe für Länder der Dritten Welt. Zahlreiche Befreiungsbewegungen in Afrika, Lateinamerika und Asien wurden von Schweden unterstützt, häufig auch durch Waffenlieferungen. Gleichzeitig setzte sich die schwedische Regierung auch immer wieder für die Begrenzung des Wettrüstens ein. 1966 rief sie ein Friedensforschungsinstitut ins Leben — das Stockholm International Peace Research Institute oder abgekürzt SIPRI —, das Daten zur Rüstungsentwicklung lieferte und Vorschläge zur Rüstungsbegrenzung und zum Krisenmanagement machte. In den Achtzigerjahren entwickelte es sich zu einem Forum der Verständigung von Sicherheitsexperten aus Ost und West.
 
Parallel zu diesem friedenspolitischen Engagement bauten in der Zeit von 1946 bis 1976 die Regierungen von Tage Erlander und Sven Olof Palme die sozialstaatliche Komponente eines entwickelten Industriestaats kontinuierlich weiter aus. Meilensteine waren die Einführung einer allgemeinen Volkspension 1948 und einer allgemeinen Erziehungspension 1962, aber auch das System öffentlicher Gesundheitsvorsorge, der Ausbau des Bildungswesens und die Bereitstellung kommunaler Gemeinschaftseinrichtungen fanden weite Beachtung. Sie erschienen umso nachahmenswerter, als sie mit einem lang anhaltenden Wirtschaftswachstum verbunden waren. Kritik an der hohen Steuerlast, die zur Finanzierung des schwedischen Wohlfahrtsstaats notwendig war, führte allerdings 1970 zum Verlust der absoluten Mehrheit der Sozialdemokraten und 1976 zum Wahlsieg eines Bürgerblocks. Im September 1982 konnte Palme wieder einen Wahlsieg erringen. In den folgenden Jahren gelang es ihm, den Bestand an sozialen Leistungen weitgehend zu sichern. Gleichzeitig verstärkte er sein Engagement für die Abrüstung, die durch den neuen Kalten Krieg zwischen den Weltmächten gefährdet war. Am 18. Februar 1986 wurde Palme auf offener Straße von einem Unbekannten erschossen. Die Erschütterung über diesen Mord war nicht nur in Schweden groß. Sie zeigte, welch hohen Respekt die aktive Neutralitätspolitik des schwedischen Königreichs unterdessen genoss.
 
 
Dass Schweden nicht wie Norwegen der NATO beitrat, half seinem Nachbarland Finnland, die Selbstständigkeit gegenüber der Sowjetunion zu behaupten. Finnland hatte an der Seite des Deutschen Reichs gegen die Sowjetunion gekämpft und stand seit dem Waffenstillstand vom September 1944 unter der Kontrolle einer sowjetischen Überwachungskommission. Das legte es nahe, dass es wie die baltischen Republiken 1940 seine Unabhängigkeit verlieren und der Sowjetunion angegliedert würde.
 
Indessen bemühte sich die finnische Regierung unter Juho Kusti Paasikivi, seit dem Waffenstillstand Ministerpräsident und im März 1946 als Nachfolger von Carl Gustav Freiherr von Mannerheim zum Staatspräsidenten gewählt, der Sowjetführung keinen Anlass zur Intervention zu geben. Die hohen Reparationsleistungen, zu denen Finnland verpflichtet war, wurden pünktlich erbracht; Paasikivi erklärte demonstrativ, im Falle eines Angriffs über finnisches Gebiet werde Finnland zur Verteidigung der Sowjetunion beitragen; und nachdem die Sowjetunion eine Beteiligung am Marshallplan abgelehnt hatte, wies auch die finnische Regierung das amerikanische Angebot zurück.
 
Paasikivis Strategie des Wohlverhaltens zahlte sich aus. Im Februar 1948 schlug Stalin ihm einen Freundschafts- und Beistandspakt vor, der regelmäßige Konsultationen und ein nahezu automatisches Eingreifen sowjetischer Truppen im Krisenfall vorsah — für die finnische Demokratie eine umso beunruhigendere Perspektive, als die Kommunisten ein Viertel der Abgeordneten stellten, über sechs Ministerämter einschließlich des Innenministeriums verfügten und die Staatspolizei kontrollierten. Die finnische Regierung beharrte darauf, dass Konsultationen nur im Fall einer akuten Bedrohung stattfinden sollten und Finnland die Entscheidung über den Einsatz sowjetischer Truppen auf seinem Territorium in der Hand behalten müsse. Zu ihrer Erleichterung gab sich Stalin damit zufrieden; der Vertrag wurde in dieser Form am 6. April 1948 unterzeichnet.
 
In der Folgezeit griff die Sowjetunion zweimal in die finnische Innenpolitik ein: Im Herbst 1958, nachdem die finnischen Kommunisten aus der Regierung ausgeschlossen worden waren, musste diese auf sowjetischen Druck zurücktreten; zu dem zweiten Fall kam es im Herbst 1961, als Staatspräsident Urho Kaleva Kekkonen, seit 1956 Nachfolger von Paasikivi, von einem sozialdemokratischen Mitbewerber abgelöst zu werden drohte. Beide Male fand sich eine Mehrheit für eine Politik, die der Sowjetunion genehm war, und 1966 söhnten sich die Sozialdemokraten mit der sowjetischen Führung aus. Die Stellung Kekkonens wurde dadurch gestärkt, der Kurs des Wohlverhaltens, die Paasikivi-Linie, bekräftigt. Er erlaubte Finnland keine aktive Neutralitätspolitik, wohl aber die Aufrechterhaltung enger Kontakte zu den nordischen Nachbarn und die Assoziierung mit der Europäischen Gemeinschaft. Mit der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die von 1973 bis 1975 in Helsinki tagte, fand die finnische Neutralitätspolitik auch international weitgehende Anerkennung.
 
 Österreichs Neutralität
 
In Österreich war die Proklamation der Neutralität die Voraussetzung für die Wiederherstellung der Einheit des Landes in freier Selbstbestimmung. Wie Deutschland war Österreich nach dem verlorenen Krieg 1945 in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden, und die Verständigung der Alliierten über die Aufhebung des Besatzungsstatuts ließ lange auf sich warten. Im Unterschied zu Deutschland gab es aber eine zentrale Regierung, zunächst provisorisch und seit den Nationalratswahlen vom 25. November 1945 demokratisch legitimiert. 1947 entschieden sich die beiden großen Regierungsparteien, die Österreichische Volkspartei (ÖVP) und die Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ), für eine Beteiligung am Marshallplan. Die Kommunisten schieden daraufhin aus der Regierung aus, und es drohte zeitweilig eine Teilung des Landes.
 
Die Sprecher der großen Koalition aus ÖVP und SPÖ machten jedoch deutlich, dass aus der Teilnahme am Marshallplan keineswegs eine Beteiligung an der westlichen Blockbildung zu folgen habe. Ab 1952 sprachen sie sich deutlich für eine Neutralität nach der Ablösung des Besatzungsstatus aus. Im Frühjahr 1955 ließ sich die sowjetische Regierung auf diese Formel ein. Von Kekkonen ermutigt, handelten Bundeskanzler Julius Raab und Außenminister Leopold Figl die Bedingungen für den Abzug der alliierten Besatzungstruppen aus.
 
Um der Sowjetunion jeden Vorwand für eine künftige Intervention zu nehmen, wurde das Prinzip der immer währenden Neutralität im Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 überhaupt nicht erwähnt. Es wurde vielmehr vom österreichischen Nationalrat in einer einseitigen Entschließung am 7. Juni 1955 proklamiert und dann am 26. Oktober 1955 in einem Verfassungsgesetz festgelegt. Die Bevölkerung begrüßte das Bekenntnis zur Neutralität als Voraussetzung für die wiedergewonnene Freiheit. Damit wurde es zu einem Bestandteil nationaler Identität, das auch ohne völkerrechtliche Festlegung verbindlich war.
 
Das souverän gewordene Österreich wurde 1955 Mitglied der Vereinten Nationen. 1956 trat es dem Europarat bei und 1960 der EFTA. Die österreichischen Regierungen traten für die Entspannung im Ost-West-Konflikt ein, sowohl in der Ära der großen Koalition, die bis 1966 fortdauerte, als auch in der Zeit der Alleinregierung der ÖVP von 1966 bis 1970. Mit der Bildung einer Alleinregierung der Sozialisten unter Bruno Kreisky im April 1970 wurde die österreichische Neutralitätspolitik aktiver: Dem schwedischen Beispiel folgend beteiligte sich Österreich an Friedensmissionen der UNO; auf Zypern und an der arabisch-israelischen Demarkationslinie stellte es Truppen zur Friedensüberwachung zur Verfügung. Im KSZE-Prozess arbeitete es aktiv mit. Wien wurde 1973 Tagungsort der Gespräche über Truppenreduzierungen in Mitteleuropa und 1979 Sitz von Einrichtungen der UNO.
 
1983 verlor die SPÖ ihre absolute Mehrheit. Kreisky trat daraufhin zurück, sein Parteifreund Fred Sinowatz bildete eine Koalitionsregierung mit der kleinen Freiheitlichen Partei (FPÖ). Ihm folgte 1986 Franz Vranitzky, der eine Koalition mit der ÖVP bildete. Damit lebte die große Koalition unter umgekehrten Vorzeichen wieder auf, diesmal freilich mit der Aufgabe, das Problem veralteter Strukturen im staatlichen Sektor der Industrie in Angriff zu nehmen.
 
 Jugoslawiens Unabhängigkeit
 
Jugoslawiens Sonderrolle ist mit derjenigen von Finnland und Österreich insofern vergleichbar, als sie ebenfalls aus einem Kampfum Selbstbehauptung gegenüber der Sowjetunion hervorgegangen ist. In diesem Fall handelte es sich jedoch um die Selbstbehauptung eines kommunistischen Regimes. Partei- und Staatschef Tito wollte sich jedoch trotz der Unterstützung durch die Westmächte keineswegs dem westlichen Bündnis anschließen. Vielmehr trat er für Gleichberechtigung innerhalb der kommunistischen Weltbewegung ein. Nach dem Tode Stalins erzielte er auch einen gewissen Erfolg: 1956 bestätigte die neue sowjetische Führung ausdrücklich das Recht Jugoslawiens auf einen eigenen Weg zum Sozialismus. Mit der Niederschlagung des Ungarnaufstands Anfang November 1956 wurden jedoch die Grenzen der Gleichberechtigung sichtbar. Tito protestierte und wurde dafür von Moskau scharf angegriffen. Als Chruschtschow im Herbst 1957 zu einer Konferenz der kommunistischen Parteien einlud, die wieder ein gemeinsames Steuerungsorgan installieren sollte, fuhr Tito gar nicht erst hin; die jugoslawische Delegation lehnte die Unterzeichnung des Schlussdokuments ab, obwohl es nicht mehr als die Herausgabe allgemeiner politischer Richtlinien vorsah.
 
Danach setzte Tito stärker auf die Bewegung, die er durch ein Treffen mit dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abd el-Nasser und dem indischen Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru im Juli 1956 auf seinem Sommersitz, der Adriainsel Brioni, eingeleitet hatte: die Zusammenarbeit der blockfreien Staaten, die den gesellschaftlichen Fortschritt auf ihre Fahnen geschrieben hatten, ohne sich der Sowjetunion unterzuordnen. Es waren dies insbesondere Staaten der Dritten Welt, und die Überwindung des Kolonialismus gehörte zu ihren ersten Zielen. Im September 1961 gelang es Tito, Vertreter von 25 Staaten zu einer Konferenz der blockfreien Staaten in Belgrad zu versammeln. Sie initiierte eine lockere Gruppierung, die sich künftig regelmäßig zu Gipfelkonferenzen traf und bis in die Achtzigerjahre auf über 70 Mitglieder angewachsen war.
 
Auf die Blockfreienbewegung gestützt konnte Jugoslawien seit Mitte der Sechzigerjahre auch wirkungsvoll für Entspannung und Abrüstung eintreten. Die Praxis der Selbstverwaltung blieb freilich immer hinter den hehren Prinzipien zurück, die auch außerhalb Jugoslawiens viel Anklang fanden. Nach dem Tode Titos am 4. Mai 1980 erwiesen sich die Regelungen zur Stärkung der Teilrepubliken des jugoslawischen Vielvölkerstaats bald als ungenügend, um die Einheit des Landes zu sichern.
 
Prof. Dr. Wilfried Loth
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Finnland: Unabhängigkeit im Schatten der Sowjetunion
 
 
Krosby, Hans Peter: Friede für Europas Norden. Die sowjetisch-finnischen Beziehungen von 1944 bis zur Gegenwart. Aus dem Amerikanischen. Wien u. a. 1981.
 Maude, George: The Finnish dilemma. Neutrality in the shadow of power. London u. a. 1976.

Universal-Lexikon. 2012.

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